Die Orthomolekulare Medizin beschäftigt sich mit der präventiven und therapeutischen Bedeutung von Mikronährstoffen. Zu den Mikronährstoffen zählen Vitamine, Vitaminoide, Mineralstoffe, Spurenelemente, essentielle Fettsäuren und Aminosäuren. Es handelt sich also um Substanzen, die natürlich im Körper vorkommen und im Stoffwechsel eine definierte biochemische Funktion haben. Prinzipiell ist die Orthomolekulare Medizin kein Ersatz für eine gesunderhaltende Ernährungsweise, sondern sollte diese sinnvoll ergänzen. Dies bedeutet, daß dem Stoffwechsel alle erforderlichen Bausteine in ausreichender Menge und Qualität zur Verfügung gestellt werden.

Einige Mikronährstoffe haben in höheren Dosen auch pharmakologische Wirkungen, wie z.B. der analgetische Effekt der B-Vitamine. Diese Wirkungen sind häufig nicht aus der biochemischen Funktion des einzelnen Mikronährstoffs ableitbar.

Mineralstoffe, Spurenelemente und Vitamine gehören seit vielen Jahren zum therapeutischen Repertoire vieler Ärzte und Heilpraktiker. Wesentlich weniger Beachtung fanden bisher die Aminosäuren, obwohl diese zu den vielseitigsten Biomolekülen überhaupt gehören. Aminosäuren sind nicht nur Proteinbausteine, sondern Ausgangssubstanzen für zahlreiche Metabolite wie Kreatin, Carnitin, Glutathion, DNA, Serotonin, Melatonin etc.

Zu einer verminderten Verfügbarkeit einzelner Aminosäuren kann es nicht nur bei allen Maldigestions-Syndromen kommen, sondern auch bei katabolen Stoffwechselzuständen sowie bei erhöhten Belastungen des Organismus durch Xenobiotika, oxidativen Stress etc. Vor der Substitution einzelner Aminosäuren ist eine Bestimmung der AS-Konzentrationen im Blutserum/ Plasma zu empfehlen, da durch eine ungezielte Supplementierung auch Aminosäuren-Imbalancen ausgelöst werden können. Im Folgenden sollen nun einige Aminosäuren vorgestellt werden, die in der Orthomolekularen Medizin eine bedeutende Rolle spielen:

 

Arginin

Arginin ist die Ausgangssubstanz für die Bildung von Stickoxid (NO). In fast allen Zellsystemen konnte eine NO-Bildung nachgewiesen werden. Besonders wichtig ist die Funktion von NO im Nervensystem, Gefäßsystem und Immunsystem. NO wirkt als Vasodilatator, es vermindert die Thrombozyten- und Granulozytenaggregation. Je höher die Homocystein-Konzentration ist, um so höher ist auch der Argininbedarf, da Homocystein das Stickoxid inaktiviert. Durch Supplementierung mit Arginin lässt sich eine Verbesserung der endothelialen Dysfunktion erreichen; dies ist durch mehrere Studien belegt worden.

Eine bedeutende Rolle spielt Arginin auch für das Immunsystem, da NO ein wichtiges Effektormolekül der Makrophagen und anderer Immunzellen ist. Ohne ausreichende Mengen an NO können intrazelluläre Erreger, z.B. Viren, nicht erfolgreich bekämpft werden. Arginin aktiviert auch den Harnstoffzyklus und somit die Ammioniakentgiftung, es stimuliert die Wundheilung und ist an der Biosynthese von Kreatin beteiligt.

 

Cystein

Cystein ist eine schwefelhaltige Aminosäure mit einer freien SH-Gruppe. Cystein ist der wichtigste Teil des Glutathionmoleküls. Reduziertes Glutathion (GSH) und Cystein bilden den Nichtprotein-Thiol-Pool und spielen eine wesentliche Rolle für die Aufrechterhaltung und Regulierung des Redoxpotentials.

Cystein hat sehr vielfältige biochemische und pharmakologische Funktionen. Dazu gehören:

  • Regulierung der Körperzellmasse und der Stickstoffbilanz
  • Regulierung des Gefäßtonus und der Endothelfunktion
  • Modulierung von Immunfunktionen (TH1 / TH2-Balance, Aktivität der NK-Zellen)


Cystein sollte aus chemischen Stabilitätsgründen als N-Acetyl-Cystein (NAC) substituiert werden. NAC senkt Homocystein, Lipoprotein (a) und erhöht das HDL-Cholesterin im Blutserum. Cystein spielt eine wesentliche Rolle bei Entgiftungsreaktionen in der Leber. Viele Xenobiotika können nur durch eine Koppelung an Glutathion oder Sulfat ausgeschieden werden.

 

Glutamin

Glutamin ist die Aminosäure mit der höchsten Konzentration im Blut. Zellsysteme mit hoher Zellteilungsrate sind obligat auf ein ausreichendes Glutathionangebot angewiesen. Deshalb beeinträchtigt ein Glutaminmangel in erster Linie das Immunsystem und die Funktion des Dünndarms. Zu einem Glutaminmangel kommt es sehr häufig bei katabolen Stoffwechselzuständen wie z.B. postoperativ, bei schweren internistischen Erkrankungen, bei Leistungssport etc. Die Folge sind eine erhöhte Infektanfälligkeit und ein verstärkter Muskelproteinabbau.

Glutamin gehört neben Arginin und den Omega-3-Fettsäuren zur so genannten Immunnutrition, die immer häufiger bei Patienten mit metabolischem Stress zur Vermeidung von Mucosaatrophie, Sepsis, Wundheilungsstörungen etc. eingesetzt wird. Durch eine Glutaminsupplementierung lässt sich auch die Synthese von GABA im ZNS steigern.

 

Lysin

Lysin ist neben Glycin und Prolin ein wichtiger Baustein der Kollagene, den mengenmäßig häufigsten Proteinen von Bindegewebe und Knochen. Lysin fördert die Calciumresorption aus dem Darm und die Calciumeinlagerung in die Knochen. Nach den Untersuchungen von Rath spielt Lysin auch eine wichtige Rolle für die Integrität der Gefäßwände.

Lysin ist hilfreich bei Infektionen mit Herpesviren. Diese sind auf Arginin als Nährsubstrat angewiesen. Lysin ist ein natürlicher Arginin-Antagonist, weil Arginin und Lysin die gleichen Transportmechanismen benutzen. Durch eine Erhöhung der Lysinzufuhr ist deshalb eine Argininverknappung zu erreichen, die zu einem Wachstumsstillstand der Herpesviren führt.

 

Methionin

Methionin ist eine essentielle schwefelhaltige Aminosäure und im Stoffwechsel die wichtigste Quelle für H+-Ionen. Dies macht man sich zur Ansäuerung des Urins bei bakteriellen Harnwegsinfekten zunutze. Eine wesentliche Stoffwechselfunktion des Methionin ist die Bereitstellung von Methylgruppen für zahlreiche Biosynthesen, z.B. von Neurotransmittern, Nukleinsäuren, Adrenalin etc. Dazu wird aus Methionin zunächst S­Adenosyl-Methionin (SAM) gebildet.

SAM hat sich in einigen Studien bei der Behandlung von Depressionen als wirksam erwiesen, da SAM in erheblichem Umfang an der Neurotransmittersynthese beteiligt ist. Eine weitere Indikation für SAM ist die Osteoarthritis. Bei einer Supplementierung mit Methionin sollte unbedingt auf eine ausreichende Versorgung mit B12, Folsäure und B6 geachtet werden, um eine vermehrte Homocysteinbildung zu vermeiden.

 

Taurin

Taurin ist ein schwefelhaltiges Aminosäurenderivat, das aus Cystein und Methionin gebildet werden kann. Es spielt eine wesentliche Rolle bei der Bildung von Gallensäuren und kann zur Prävention einer Cholelithiasis eingesetzt werden.

Taurin ist ein wichtiges Antioxidans, das erforderlich ist zur Begrenzung von Entzündungsreaktionen („respiratory burst“). Es schützt das Lungenepithel vor oxidativen Schäden; auch die Retina weist eine hohe Taurinkonzentration auf. Es wirkt stabilisierend auf die Membranen von Nerven- und Herzmuskelzellen, woraus sich die antikonvulsiven und antiarrhythmischen Eigenschaften dieser Substanz ergeben.

Taurinsupplemente können mit Erfolg bei der Herzinsuffizienz, bei Herzrhythmusstörungen und Bluthochdruck eingesetzt werden. Taurin ist eine wichtige Substanz für Diabetiker, weil es einen protektiven Effekt gegen diabetische Spätschäden hat und eine erhöhte Thrombozytenaggregation normalisiert. Wegen seiner antioxidativen Eigenschaften ist Taurin auch eine sinnvolle orthomolekulare Substanz zur Prävention und Therapie der Makuladegeneration und des senilen Katarakts.

 

Tryptophan

Tryptophan ist die Aminosäure, die am wenigsten in Nahrungsmitteln vorkommt. Es ist die Ausgangssubstanz zur Bildung von Serotonin, das im ZNS eine Neurotransmitterfunktion hat. Serotonin ist an der Regulierung von Stimmung, Appetit, Schmerzempfinden, Schlaf-Wach-Rhythmus etc. beteiligt.

Die Serotoninsynthese im ZNS ist unmittelbar abhängig von der Tryptophanmenge, die durch die Blut-Hirn-Schranke ins Gehirn gelangt. Tryptophan konkurriert mit anderen Aminosäuren um die gleichen Carriers ins Gehirn. Um dem Tryptophan einen Wettbewerbsvorteil an der Blut-Hirn-Schranke zu verschaffen, sollte es zusammen mit Kohlenhydraten eingenommen werden. Bekanntlich induzieren Kohlenhydrate eine vermehrte Freisetzung von Insulin, das den Blutspiegel der anderen Aminosäuren senkt.

Tryptophan ist eine wichtige Aminosäure für die Stimmung und die psychische Befindlichkeit. In zahlreichen Studien konnte nachgewiesen werden, dass niedrige Tryptophankonzentrationen mit einer negativen Stimmungslage und Depressionsneigung korrelieren.

 

Fazit:
Aminosäuren haben ein großes therapeutisches Potential und können gerade auch bei vielen „modernen“ Erkrankungen wie CFS, Burn-out, Fibromyalgie und Chemikalienüberempfindlichkeit eine wirksame Hilfe sein. Sie wirken modulierend auf das Immunsystem, aktivieren Entgiftungsmechanismen und können als Neurotransmittervorstufen auch die psychische Befindlichkeit erheblich beeinflussen. Voraussetzung für eine erfolgversprechende Therapie mit Aminosäuren ist eine entsprechende Labordiagnostik, weil ansonsten Aminosäuren-Defizite nicht objektivierbar sind.
 
 
Veröffentlicht:
Der Heilpraktiker & Volksheilkunde, Ausgabe 4/2003; Autor: Dr. med. Hans-Günter Kugler
 

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