Orthomolekulare Medizin bei Angsterkrankungen

Im September 2011 wurden die Ergebnisse einer Studie publiziert, in der die Häufigkeit psychiatrischer und neurologischer Erkrankungen in 30 europäischen Ländern untersucht worden war. 38,2 Prozent oder 164,8 Mio von 514 Mio Europäern leiden jährlich an einer klinisch bedeutsamen psychischen Störung. Die häufigsten Erkrankungen sind Angststörungen mit 14 Prozent der Bevölkerung, gefolgt von Schlafstörungen (7 Prozent) und unipolaren Depressionen (6,9 Prozent). In den USA leiden 18,1 Prozent der Bevölkerung unter 18 Jahren unter Angststörungen.

Es werden im Wesentlichen drei Typen von Angststörungen unterschieden: Die Panikstörung ist durch wiederkehrende, schwere Angstattacken charakterisiert, die meist einige Minuten, gelegentlich auch länger, andauern. Die generalisierte Angststörung ist durch eine nicht an Objekte gebundene Angst gekennzeichnet. Die Beschwerden sind ähnlich wie bei der Panikattacke, aber weniger ausgeprägt, dafür länger anhaltend. Für die generalisierte Angststörung wird die Lebenszeitprävalenz auf fünf Prozent geschätzt. Auch Panikstörungen sind vergleichsweise häufig, und auch hier wird eine Lebenszeitprävalenz mit bis zu fünf Prozent angegeben.

Phobien sind Ängste, die sich auf bestimmte Objekte oder Situationen beziehen. Recht häufig treten die Agoraphobien auf. Darunter versteht man Angstzustände, die beim Verlassen der eigenen Wohnung auftreten oder Angst z.B. vor Menschenansammlungen, öffentlichen Plätzen etc. Soziale Phobien zeigen sich eher in kleinen Menschengruppen und haben die Furcht vor prüfender Betrachtung seitens anderer Menschen zum Inhalt. Aus diesem Grund werden soziale Situationen vermieden. Phobien sind vergleichsweise weit verbreitet. Es wird eine Lebenzeitprävalenz von 13 Prozent für soziale Phobien angegeben.

Neurobiologische Erklärungsmodelle gehen davon aus, dass bei Angsterkrankungen eine genetisch determinierte Angstbereitschaft vorliegt. Möglicherweise besteht eine Überaktivität des Locus coeruleus, einer großen Zellgruppe noradrenerger Neuronen. Bei Angsterkrankungen spielt auch der Neurotransmitter GABA eine Rolle. Im gesamten lymbischen System finden sich zahreiche GABAerge Synapsen. Das GABAerge System scheint auch bei einer Stressreaktion der Aktivität der HPA-Achse entgegenzuwirken. Benzodiazepine verstärken die GABA-Wirkung, wodurch kurzfristig der Angstzustand gemildert werden kann. Da Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer erfolgreich bei verschiedenen Angststörungen eingesetzt werden können, kann man davon ausgehen, dass auch das serotonerge System mit der Entstehung von Angsterkrankungen zusammenhängt. Mikronährstoffe sind in vielfältiger Weise am Stoffwechsel des Gehirns beteiligt, z.B. am antioxidativen Schutz der Nervenzellen, an der Energiegewinnung der Nervenzellen, an der Neurotransmission, an der Bildung und am Abbau von Neurotransmittern und an vielem mehr.

Auch Mikronährstoffmängel können mit Angsterkrankungen assoziiert sein, wie folgende Fakten aufzeigen:

 

Homocystein

Erhöhte Homocysteinkonzentrationen beeinträchtigen Methylierungsreaktionen durch aufgrund eines Abfalls der Konzentration von S-Adenosylmethionin. Daraus folgt eine Störung des Stoffwechsels von Neurotransmittern, Phospholipiden, Myelin etc. Erhöhte Homocysteinkonzentrationen führen auch zu einer Aktivierung von NMDA-Rezeptoren. Homocystein wirkt also neurotoxisch. Bei affektiven Erkrankungen wurden in Studien häufig erhöhte Homocysteinkonzentrationen nachgewiesen. Es gibt aber auch Zusammenhänge zwischen erhöhten Homocysteinkonzentrationen und Angsterkrankungen. In der ATTICA-Studie war Ängstlichkeit mit einer Erhöhung von Entzündungsmarkern, von Blutgerinnungsfaktoren und der Homocysteinkonzentration assoziiert. Bei Patienten mit Panikstörungen wurden im Vergleich zu einer Kontrollgruppe erhöhte Homocysteinkonzentrationen festgestellt, außerdem verminderte Stickoxid-Spiegel. In einer israelischen Studie zeigte sich ein enger Zusammenhang zwischen der Homocysteinkonzentration und der Dauer eines posttraumatischen Stresssyndroms. Erhöhte Homocysteinkonzentrationen sind häufig ein Marker für einen Mangel an den Vitamine B6, B12 und Folsäure.

Im Rahmen der Hordaland Health Study konnte nachgewiesen werden, dass zwischen Cholinspiegeln und Angstsymptomen ein inverser Zusammenhang besteht.

 

Mineralstoffe/ Spurenelemente

Ebenfalls im Rahmen der Hordaland Health Study zeigte sich ein enger Zusammenhang zwischen der Magnesiumkonzentration und Depressionen. Bei Angststörungen war dieser Zusammenhang etwas schwächer ausgeprägt und statistisch nicht signifikant. In einer Studie der Universität von Palma de Mallorca konnte gezeigt werden, dass Stress und Ängstlichkeit bei Studenten zu einer erhöhten Magnesiumausscheidung im Urin führen.

Magnesium ist ein Modulator der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse). Bei einer Dysregulation der HPA-Achse treten vermehrt Angststörungen auf.

Bei Versuchspersonen mit Angstsymptomen wurden die Zink- und Kupferkonzentrationen im Plasma bestimmt und mit den Werten einer Kontrollgruppe verglichen. Die Versuchspersonen mit Angstsymptomen hatten signifikant höhere Kupferspiegel und niedrigere Zinkkonzentrationen. Bekanntlich ist Zink für die Funktionsfähigkeit verschiedener Neurotransmittersysteme, u.a. auch für das GABAerge System, erforderlich. Erhöhte Kupferkonzentrationen findet man typischerweise auch im Rahmen einer Akutphasenreaktion, so dass erhöhte Kupferkonzentrationen auch mit einem Anstieg der Entzündungsmarker einhergehen.

Die Selenaufnahme mit der Ernährung war in einer Untersuchung mit der Stimmungslage assoziiert. Eine höhere Selenaufnahme führte vor allem zu einer Abnahme von Ängstlichkeit.

 

Antioxidantien/ Vitamine

Oxidativer Stress wurde bei verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen nachgewiesen, z.B. bei Depressionen, Angststörungen und einem hohen Angst-Level. Die Frage, inwieweit oxidativer Stress ursächlich für Angststörungen verantwortlich ist, ist derzeit noch nicht abschließend geklärt. Es gibt aber verschiedene Hinweise, dass oxidativer Stress und eine erhöhte Ängstlichkeit eng zusammenhängen. In einer türkischen Studie wurden verschiedene Parameter des oxidativen Stresses bei Patienten mit sozialer Phobie untersucht. Es zeigte sich eine positive Korrelation zwischen Ängstlichkeit-Scores und den Konzentrationen von Malondialdehyd, SOD, GSH etc.

Bei neun Patienten mit einer generalisierten Angststörung konnte durch intramuskuläre Injektionen von 100 mg Vitamin B1 täglich eine deutliche Besserung der Angstsymptomatik und des Allgemeinbefindens erreicht werden. Bei Fibromyalgie-Patienten wurde nachgewiesen, dass niedrige Vitamin-D3-Spiegel vermehrt mit Ängstlichkeit und Depressionen assoziiert waren.

 

Aminosäuren

Im Nutritional Journal wurde eine große Übersichtsarbeit über die Behandlungsmöglichkeiten von Angsterkrankungen mit pflanzlichen Medikamenten und Mikronährstoffen publiziert. Bei Angsterkrankungen hat sich eine Arginin-/ Lysinkombination in zwei Doppelblindstudien als wirksam erwiesen. Es ist bekannt, dass Lysin als ein partieller Serotoninrezeptor-4-Antagonist wirkt und dadurch die Gehirn-/ Darmantwort auf Stress vermindert und den Blutcortisolspiegel senkt.

Die erste der klinischen Studien wurde mit gesunden männlichen Versuchspersonen mit hoher Ängstlichkeit durchgeführt. Die Supplementierung von Lysin und Arginin verbesserte die Fähigkeit der Studienteilnehmer, mit Stress umzugehen, wobei ein Anstieg des Cortisolspiegels nachgewiesen wurde. Die Autoren dieser Studie hielten es für wahrscheinlich, dass bei den ängstlichen Versuchspersonen ein Stresshormon-Regulations-Defizit vorlag, das durch Arginin/ Lysin verbessert wurde. Bereits zu einem früheren Zeitpunkt konnte nämlich gezeigt werden, dass bei sehr ängstlichen Personen auf einen Stressreiz kein oder nur ein sehr geringer Cortisolanstieg erfolgte. Diese Dysregulation der Cortisolantwort könnte zu dem stärksten Ängstlichkeitsgefühl führen, wenn Stress ausgelöst wird.

Die zweite Studie wurde mit 108 gesunden Versuchspersonen aus Japan durchgeführt. Durch die Supplementierung von Lysin und Arginin kam es bei den männlichen Versuchspersonen zu einer Verminderung der Cortisolspiegel im Speichel, außerdem wurde eine signifikante Verminderung von Stress- und Spannungszuständen erreicht. Die Wissenschaftler der Global Neuroscience Initiative Foundation, Los Angeles, die die Übersichtsarbeit publizierten, bewerteten die Kombination aus Lysin und Arginin als effektiv zur Verminderung von Ängstlichkeitssymptomen und ohne bekannte Nebenwirkungen. Aminosäurensupplemente können auch mithelfen, die Cortisolspiegel bei Stress ins Gleichgewicht zu bringen.

Klinische Studien haben gezeigt, dass Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer bei Panikstörungen wirksam sind. Daraus kann man schließen, dass Serotonin bei Panikstörungen eine Rolle spielt. Auch bei der generalisierten Angststörung dürften eine serotonerge Dysfunktion und eine Fehlregulation des vegetativen Nervensystems vorliegen. Eine Verminderung der Tryptophanverfügbarkeit mittels eines Tryptophan-Depletionstests führte bei Patienten mit einer generalisierten Angststörung zu einem signifikant stärkeren Anstieg der Speichel-Alpha-Amylase. Dieser Laborwert eignet sich sehr gut als Marker für eine Fehlregulation des vegetativen Nervensystems.

Auch Glycin könnte bei der Behandlung von Angsterkrankungen eine Rolle spielen. Glycinrezeptoren finden sich vor allem im Rückenmark sowie im Stammhirn. Es wird vermutet, dass Glycin als Antagonist von Noradrenalin wirkt. Bei der Entstehung von Angstgefühlen oder Panik spielt die Freisetzung von Noradrenalin eine wichtige Rolle. Glycin vermindert die Freisetzung von Noradrenalin und kann damit Angstsymptome vermindern.

 

 

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Veröffentlicht:
Report Naturheilkunde, 16. Jahrgang, 2012, Heft 1
Autor: Dr. med. Hans-Günter Kugler
Bild: Rynio Productions, Fotolia.com