Aminosäuren in der Anti-Aging-Medizin (Teil 2)

Freie Radikale

Von allen Alterungstheorien ist die Theorie der freien Radikale am besten wissenschaftlich belegt. Im Laufe des Lebens kommt es nachweisbar zu oxidativen Veränderungen von Biomolekülen, die letztlich zu einer Funktionseinbuße im Zell- und Organstoffwechsel führen. Aminosäuren haben nicht nur vielfältige biochemische Funktionen, sondern verfügen auch über ein erhebliches therapeutisches Potenzial:

 

Arginin

Arginin ist eine semiessentielle Aminosäure, d.h. sie kann im Prinzip vom Stoffwechsel selbst gebildet werden. Bei Kindern und in bestimmten Stoffwechselsituationen ist die endogene Synthese oft nicht ausreichend. Arginin ist die Ausgangssubstanz zur Synthese von Stickoxid (NO).

NO war das Molekül des Jahres 1992. Im Jahre 1998 wurde für die Erforschung des NO-Metabolismus der Nobelpreis für Medizin verliehen. Stickoxid ist ein löslicher, diffusionsfähiger Botenstoff, der keine Zielrezeptoren benötigt. Inzwischen ist in allen Zellsystemen des Menschen eine niedrigdosierte, calciumabhängige NO-Synthese nachgewiesen. Darüber hinaus existiert eine induzierbare, hochdosierte und langdauernde NO-Produktion, die in zahlreichen Zelltypen des Immunsystems entdeckt wurde, z.B. Makrophagen, T­Lymphozyten.

NO und seine Derivate sind unverzichtbar zur Bekämpfung intrazellulärer Erreger. Ein NO- bzw. Arginin-Mangel führt deshalb zwangsläufig zu einem Immundefizit: Die Proliferation der Lymphozyten ist von einer ausreichenden Argininmenge abhängig; eine Arginin-Supplementierung stimuliert die Lymphozyten auch bei Gesunden.

Arginin hat einen wichtigen protektiven Effekt auf das Gefäßsystem:
NO wirkt als Vasodilator, vermindert die Thrombozyten- und Granulozyten-Aggregation und hat eine antiproliferative Wirkung auf die Gefäßmuskulatur. Da Homocystein mit NO reagiert, besteht bei der Hyperhomocysteinämie ein erhöhter Argininbedarf.

Arginin verbessert die cerebrale Durchblutung. NO spielt eine wichtige Rolle bei der Gedächtnisbildung durch die Beteiligung an der Langzeitpotenzierung. In mehreren Studien wurde ein positiver Effekt von Arginin auf die endotheliale Dysfunktion belegt.

Arginin ist die Ausgangssubstanz zur Kreatinsynthese. Kreatinphosphat ist die Energiereserve des Muskelgewebes. Bei erhöhter körperlicher Aktivität steigt auch der Kreatinbedarf. Arginin stimuliert die STH-Sekretion, wobei hier Dosen von drei bis acht Gramm auf nüchternen Magen erforderlich sind.

 

Cystein

Cystein ist eine schwefelhaltige Aminosäure, die auf Grund ihrer chemischen Eigenschaften (freie SH-Gruppe) eine fundamentale Rolle im Zellstoffwechsel spielt. Cystein ist neben Glycin und Glutaminsäure Baustein des Glutathion-Moleküls. Cystein und Glutathion bilden den so genannten Nicht-Protein-Thiolpool, der eine entscheidende Funktion für die Redox-Grundregulation der Zelle hat.

Grundsätzlich gilt, dass ein Organismus um so reduzierter sein muss, je komplexer er aufgebaut ist.
Sauerstoffradikale und Stickoxidradikale werden in erster Linie durch den Thiol-Pool neutralisiert. Deshalb kann es beim oxidativen bzw. nitrosativen Stress zu einer Verminderung des Thiol-Pools kommen. Ein Mangel an Thiolen hat erhebliche pathobiochemische Konsequenzen, z.B. eine Funktionsstörung der Mitochondrien mit erhöhter Laktatbildung. Veränderungen des Redoxpotenzials beeinflussen auch die Expression redoxsensitiver Gene. Bei einem Thiolmangel kommt es zu einer TH2-Immundominanz, was die Bekämpfung intrazellulärer Erreger erschwert und die Allergiebildung fördert.

Probleme mit der Glutathionverfügbarkeit ergeben sich häufig auch durch eine hohe Toxinbelastung. Viele Xenobiotika und Chemikalien können nur durch Konjugation mit Glutathion entgiftet werden. Die Glutathionsynthese ist im Wesentlichen abhängig vom Cysteinangebot.Cystein ist auch die Hauptprotonenquelle des Organismus.

Die Leber benötigt ausreichende Mengen an Cysteinprotonen für die Regulation des Harnstoffzyklus. Schwermetalle reagieren sehr leicht mit der SH-Gruppe des Cysteins, deshalb ist bei einer entsprechenden Belastung der Cysteinbedarf deutlich erhöht. Haut, Haare und Nägel enthalten viel Cystein.

Beim Cysteinabbau entsteht aktivierter Schwefel (PAPS), der ein wichtiger Grundbaustein für die Synthese von Proteoglykanen ist (z.B. Chondroitinsulfat, Derma­tansulfat). Ein Cysteindefizit führt zu einem vermehrten Eiweißabbau, zu erhöhter Aktivität des Harnstoffzyklus, zu einem überwiegend glykolytischen Stoffwechsel sowie zu einer verminderten Aktivität der T-Helferzellen, NK-Zellen und Granulozyten. Außerdem wurden bei einem Cysteindefizit beschleunigte Alterungsprozesse an Zellen beobachtet.


Glycin

Glycin ist Ausgangssubstanz zur Synthese von Nukleotiden, Porphyrinen, Kollagenen und Kreatin. Es ist Bestandteil von Gallensäuren und an hepatischen Konjugationsreaktionen beteiligt. Glycin wirkt als inhibitorischer Neurotransmitter im Rückenmark, deshalb kann es bei einem Glycinmangel zu Störungen der Motorik, z.B. Spasmen, kommen.

Tierexperimentell wurden hepatoprotektive Effekte nachgewiesen, z.B. eine Verminderung der alkoholinduzierten TNF-Produktion. Der STH-stimulierende Effekt des Glycin wurde in einer japanischen Studie nachgewiesen (6,75 g vor dem Schlafengehen).

 

Glutamin

Glutamin ist die Aminosäure mit der höchsten Konzentration im Blutplasma und in der Muskulatur. Diese Aminosäure hat in den letzten Jahren vermehrt das Interesse und die therapeutische Anwendung in der klinischen Medizin gefunden, nachdem in einigen Studien die wichtige Funktion des Glutamin für die Integrität der Darmmukosa und die Aktivität des Immunsystems nachgewiesen wurde.

Für die Enterozyten und Immunzellen ist Glutamin ein essentielles Nährsubstrat. Bei erhöhtem physischen und auch psychischen Stress kann es relativ schnell zu einer Verarmung des Glutaminpools kommen; dies führt zu einem Immundefizit und zu einer Störung der Darmmukosa (leaky gut syndrome). In katabolen Stoffwechselsituationen kann die endogene Glutaminsynthese den erhöhten Bedarf nicht mehr decken. Glutaminabhängig sind die Differenzierung der T-Zellen zu Plasmazellen, die Interleukin1-Synthese und die Phagozytosefähigkeit der Makrophagen. Glutamin ist eine wichtige Ausgangssubstanz für die GABA-Synthese und notwendig für den Erhalt der Muskulatur. Glutaminsupplemente stimulieren die Bikarbonatproduktion und fördern die Regeneration der Muskulatur nach erhöhter physischer Belastung.

Bei Leistungssportlern konnte durch die Supplementierung von Glutamin die Infektanfälligkeit deutlich vermindert werden. Glutamin ist ein potenter Stimulator der STH-Sekretion mit der vergleichsweisen geringen Menge von zwei Gramm.

 

Lysin

Lysin ist erforderlich für die Synthese von Kollagen und Elastin und ist dadurch Baustein von Knochen, Bindegewebe und Gefäßwänden. Nach Untersuchungen von Rath reduzieren Lysin und Prolin das atherogene Potenzial von Lipoprotein (a); die Progredienz der Atherosklerose wird verlangsamt.

Lysin fördert die Calciumresorption aus dem Darm. Eine Nahrungsergänzung mit Lysin ist sinnvoll bei Osteoporose und häufig auch zur Osteoporoseprophylaxe. Lysin ist neben S-adenosyl-Methionin Ausgangssubstanz für die Carnitinsynthese. Eine Kombination aus 1200 mg Arginin und 1200 mg Lysin erwies sich als effektiver Stimulator der STH-Sekretion.

 

Taurin

Taurin ist ein Metabolit des Cysteins mit sehr vielfältigen biologischen Eigenschaften. Es erhöht die Aktivität von NK-Zellen und verbessert die antimikrobielle Kapazität der neutrophilen Granulozyten. Gleichzeitig schützt Taurin die Körperzellen vor unerwünschten cytotoxischen Effekten durch den „respiratory burst“ der Leukozyten. Taurin hat positiv inotrope, antihypertensive und antiarrhythmische Eigenschaften; es vermindert die Thrombozytenaggregation. In asiatischen Ländern ist Taurin ein weit verbreitetes Kardiotonikum.

Im ZNS wirkt Taurin als inhibitorischer Neurotransmitter und hat antikonvulsive Eigenschaften. Taurin wirkt insgesamt stabilisierend auf elektrisch erregbare Zellmembranen über eine Interaktion mit Calcium- und Magnesium-Ionen. Es ist ein wichtiges Antioxidans für Lungen, Niere und Augen. Ein Taurindefizit erhöht die Anfälligkeit des Lungenepithels gegen Reizgase wie Ozon und Formaldehyd. Taurin ist an der Entgiftung toxischer Xenobiotika beteiligt sowie an der Bildung der Gallensäuren. Taurinsupplemente können das Risiko für Gallensteine vermindern.

Beim Diabetes mellitus besteht ein erhöhter Taurinbedarf; ein ausreichendes Taurinangebot ist ein wesentlicher Schutzfaktor gegen diabetische Spätschäden. Es hat eine protektive Wirkung gegen Katarakt und Makuladegeneration. Taurin ist Bestandteil von manchen Augentropfen.

 

Tryptophan

Tryptophan ist die Aminosäure, die am wenigsten in Nahrungsmitteln vorkommt und wird bedarfsabhängig zu NAD verstoffwechselt. Tryptophan stimuliert die Polysomenbildung in der Leber und reguliert die hepatische Proteinsynthese. Aus Tryptophan wird Serotonin gebildet, das sehr vielfältige biologische Funktionen hat. In Abhängigkeit vom Rezeptortyp ist Serotonin an der Regulierung von Blutdruck, Endokrinum, Schlaf-Wach-Rhythmus, Stimmung, Appetit, Schmerzempfindung etc. betei ligt.

Tryptophan sollte zusammen mit Kohlenhydraten eingenommen werden. Dadurch erhöhen sich die Tryptophanverfügbarkeit und Serotoninsynthese im ZNS. Einige Depressionsformen lassen sich mit Tryptophan sehr günstig beeinflussen; außerdem hat es eine Schlaf induzierende Wirkung.

Eine Tryptophan-Supplementierung kann bei vielen psychovegetativen Störungen sinnvoll sein: Melatonin wird aus Serotonin mit Hilfe von SAM gebildet. Wissenschaftlich gesichert sind die regulierenden Effekte von Melatonin auf die Zellteilung, Signalübertragung und den Tag-/ Nachtrhythmus. Die häufig beschriebene antioxidative Wirkung des Melatonin beruht in vivo hauptsächlich auf einer Stimulierung der Synthese der Glutathionperoxidase. Melatonin wird gerne als „age-reversing hormone“ bezeichnet, was auf Grund des derzeitigen Erkenntnisstandes sicherlich etwas überhöht sein dürfte.

 

Tyrosin

Tyrosin ist die Ausgangssubstanz für die Synthese der Katecholamine und Schilddrüsenhormone; ein Mangel kann zu einer reduzierten Bildung von Neurotransmittern und Hormonen führen.

Eine klassische Dopamin-Mangelerkrankung ist der Morbus Parkinson. Auch bei Erschöpfungszuständen, Depressionen, Morbus Alzheimer kann der Dopaminhaushalt gestört sein. Eine Tyrosinsupplementierung führt häufig zu einer Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten; dies wurde in einigen Studien nachgewiesen.

 

Aminosäurenderivate

Glutathion, Carnitin und Coenzym Q sind Aminosäurenabkömmlinge, die eine wichtige Bedeutung im Zell- und Organstoffwechsel haben. Glutathion spielt, wie schon erwähnt, eine zentrale Rolle für die Redoxregulation des Zellstoffwechsels. Coenzym Q und Carnitin leisten einen erheblichen Beitrag zur Verbesserung oder zur Erhaltung der Mitochondrienfunktion. Neuerdings findet das Dipeptid Carnosin zunehmend Interesse in der Anti-Aging-Medizin, nachdem in zahlreichen Studien Anti-Aging-Effekte nachgewiesen wurden. Carnosin schützt Proteine vor Cross linking, Carbonylierung und Bildung von AGEs. In langlebigen Zellen wie den Neuronen spielt Carnosin eine wichtige cytoprotektive Rolle. Eine hohe Carnosinkonzentration im Gehirn schützt die Thiol-Gruppen vor Oxidation, vermindert die Toxizität freier Metallionen und schützt gegen die Excitoxizität der Glutaminsäure. In Zellkulturen zeigte sich nach einer Zugabe von Carnosin eine Verlängerung der Teilungsfähigkeit von Fibroblastenzellen; morphologisch sichtbare Alterungserscheinungen wurden rückgängig gemacht.

Carnosin verfügt über ein erhebliches zellschützendes Potenzial; diese Substanz wird sicherlich in der Anti-Aging-Medizin an Bedeutung gewinnen. Aminosäuren und ihre Abkömmlinge leisten einen wichtigen Beitrag für ein erfolgversprechendes Anti-Aging-Konzept: Bekanntlich ist eine sinnvolle Kombination antioxidativer Wirkstoffe wesentlich effektiver als die hochdosierte Substitution von Einzelsubstanzen, z.B. Vitamin C. Gerade bei der Bekämpfung freier Radikale haben die Aminosäuren Arginin, Cystein und Taurin eine spezifische Funktion und können auch nicht durch andere Substanzen ersetzt werden.

Dass Aminosäuren ein Thema sind, beweist die große Zahl wissenschaftlicher Publikationen, die sich mit der biochemischen, zellbiologischen und klinischen Bedeutung der Aminosäuren beschäftigen. Allein zum Stichwort Arginin sind in der Medline-Bibliothek mehr als 50.000 Abstracts veröffentlicht. Eine große Zahl brandaktueller Veröffentlichungen gibt es auch über Taurin.

Aminosäurendefizite sind nicht ohne weiteres erkennbar und ergeben auch kein typisches klinisches Bild: Grundsätzlich sollte vor der Nahrungsergänzung mit Aminosäuren eine entsprechende Labordiagnostik erfolgen. Man kann durch eine hochdosierte Supplementierung ohne Nachweis eines Defizits auch Aminosäuren-Imbalancen auslösen, die nachteilige Effekte haben können.

 

 

Referenzen:

 

 
Veröffentlicht:
CO`MED Nr. 8/ 2002; Autor: Dr. med. Hans-Günter Kugler

 

 

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