Aminosäuren und andere Mikronährstoffe bei Erkrankungen des Nervensystems

Die Orthomolekulare Medizin beschäftigt sich mit Substanzen, die natürlicherweise im menschlichen Körper vorhanden sind und im Stoffwechsel benötigt werden. Mit orthomolekularen Substanzen kann im Sinne der Nahrungsergänzung einem alimentären Mangel vorgebeugt werden, in höheren Dosierungen haben Mikronährstoffe häufig einen pharmakologischen Effekt. Grundsätzlich können Stoffwechselprozesse nur bei ausreichender Verfügbarkeit der erforderlichen Mikronährstoffe ungestört ablaufen. Dies gilt natürlich auch für das Nervensystem, hier spielen die Neurotransmitter eine wichtige Rolle, woraus sich ein enger Bezug zum Aminosäurenstoffwechsel ableitet. Einige Aminosäuren fungieren direkt als Transmittersubstanzen z.B. Glutaminsäure und Glycin. Wichtige Signalstoffe wie Serotonin, Dopamin und Noradrenalin sind Metabolite von Aminosäuren. Die pathogenetischen Abläufe bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen sind sehr komplex, Störungen des Mikronährstoff-Haushalts können dabei eine wichtige Rolle spielen.

 

Cerebrale Ischämien sind die häufigste Ursache neurologischer Erkrankungen. Bei ungenügender ATP-Bildung durch Sauerstoff-Mangel akkumuliert Glutaminsäure im synaptischen Spalt und hat eine cytotoxische Wirkung auf Nervenzellen. Die Bildung reaktiver Sauerstoffspezies, besonders des Superoxid-Anions, hat eine große Bedeutung bei der Pathogenese der cerebralen Ischämie. Der wichtigste Schutzfaktor ist die zinkhaltige Superoxiddismutase.

Bei den Polyneuropathien ist häufig ein Mangel an Vitamin B12 und Folsäure nachweisbar. Dadurch kommt es im Nervensystem zu einer Störung der Myelin-Synthese. Ein Defizit dieser beiden Vitamine führt auch zu einem Anstau von Homocystein. Dessen toxische Wirkung ist bei der Entstehung der Arteriosklerose nachgewiesen, betrifft aber genauso andere Gewebe. Vitamin E ist ein wichtiger Schutzfaktor gegen radikalvermittelte Membranschädigung, ein Mangel kann zu Neuropathien führen.

Der Morbus Parkinson zählt zu den extrapyramidalen Störungen, biochemisch findet man eine Verminderung von Dopamin in den Neuronen der Substantia nigra. Dopamin ist ein Metabolit der Aminosäure Tyrosin. Bei der Epilepsie sind Störungen des Transmitterhaushalts nachweisbar. Die Freisetzung von Glutaminsäure an Synapsen führt zu einer Excitation durch Aktivierung des Calciumeinstroms in die Nervenzelle. Gamma-Amino-Buttersäure (GABA) ist der entsprechende Gegenspieler. Bei der Epilepsie ist das Gleichgewicht zugunsten von Glutamat verschoben.

Der Morbus Alzheimer ist die häufigste Demenzerkrankung, die Neuronendegeneration betrifft vor allem cholinerge Neuronen, die Acetylcholin-Synthese ist gestört. Aber auch die Konzentrationen anderer Neurotransmitter nehmen ab, wie Noradrenalin und Serotonin. Bei Psychosen sind deutliche Veränderungen im Stoffwechsel der Neurotransmitter nachweisbar. Dies betrifft vor allem den Stoffwechsel der Katecholamine. Bei der Schizophrenie wurde eine verminderte Bildung von Noradrenalin bei vermehrter Freisetzung von Dopamin festgestellt. Ein Überangebot an Dopamin kann Symptome der Schizophrenie auslösen. Die Änderungen des Hirnstoffwechsels betreffen auch Methylierungsreaktionen, aus Serotonin können halluzinogene Dimethylverbindungen entstehen.

Bei Depressionen besteht häufig ein Mangel an verschiedenen Transmittersubstanzen (Dopamin, Noradrenalin und Serotonin). Langanhaltender Stress kann ebenso zur Entleerung der Speicher für diese Transmitter in hypothalamischen und limbischen Regionen führen. Bei Dunkelheit und in den Wintermonaten wird in der Zirbeldrüse vermehrt Melatonin aus Serotonin gebildet, die verminderte Serotoninkonzentration begünstigt die Entwicklung einer Depression. Häufig kann Lichttherapie den Serotonin-Stoffwechsel wieder normalisieren. Obwohl bei psychiatrischen Erkrankungen häufig Störungen des Transmitterhaushalts auftreten, ist dies sicher nur als ein Aspekt einer komplexen Pathogenese zu sehen.

Einige Aminosäuren und ihre Derivate spielen eine bedeutende Rolle im Stoffwechsel des Nervensystems:

 

Glutamin

Glutamat und Glutamin machen etwa 60% der freien Aminosäuren des Gehirns aus. Glutamin wird im Hirnstoffwechsel vorwiegend aus Glukose und Glutaminsäure gebildet und dient der Ammoniak-Fixierung. Glutamin kann im Gegensatz zu Glutamat die Blut-Hirn-Schranke leicht passieren. Die Plasma-Konzentration von Glutamin ist bei kataboler Stoffwechsellage u.a. bei schweren neurologischen Systemerkrankungen häufig vermindert.

 

Glutaminsäure

Glutaminsäure ist der wichtigste excitatorische Neurotransmitter im ZNS. Die Konzentration der Glutaminsäure im Gehirn ist etwa tausendmal höher als die der Katecholamine. Es gibt unterschiedliche Rezeptorentypen, an die Glutaminsäure binden kann. Für die Gedächtnisbildung und für Lernvorgänge spielen die sogenannten metabotropen Glutamatrezeptoren eine bedeutende Rolle. Eine Substitution von Glutaminsäure kann zu einer cerebralen Leistungssteigerung führen.

Allerdings hat Glutaminsäure auch ein neurotoxisches Potential, das besonders bei cerebralen Ischämien von Bedeutung ist. Durch ATP-Mangel akkumuliert Glutaminsäure im synaptischen Spalt, durch massive Elektrolytveränderungen kommt es zunächst zu einer Schädigung der Zellorganellen und schließlich zum Zelltod. Die Glutamat-Konzentration korreliert mit dem Ausmaß der Infarcierung im Gehirn. Unter physiologischen Bedingungen ist der Glutaminsäure-Gehalt im Gehirn weitgehend unabhängig von der Plasmakonzentration. Langfristig erhöhte Plasmaspiegel können aber den Glutamat-Gehalt im Gehirn verändern.

Erhöhte Plasmakonzentrationen sind häufig bei schweren Erkankungen nachweisbar (Trauma, Sepsis, Tumore etc.), Ursache ist eine verstärkte Laktatbildung in der Muskulatur mit intrazellulärer Azidose. Glutaminsäure ist im Nervengewebe auch Vorstufe für den inhibitorischen Neurotransmitter Gamma-Amino-Buttersäure (GABA). GABA hat eine wichtige Funktion bei der Stressregulation, es verringert die Freisetzung von ACTH aus der Hypophyse. ACTH wiederum stimuliert die Bildung und Freisetzung von Glukocorticoiden aus der Nebennierenrinde.

 

Glycin

Glycin ist ein inhibitorischer Neurotransmitter und im Rückenmark an der Koordinierung der Motorik beteiligt. Zur Aktivierung bestimmter lonenkanäle im ZNS wird Glycin in Verbindung mit Glutamat benötigt. Pharmakologische Dosen von Glycin können zu einer Verminderung der Spastizität bei Multiple Sklerose führen. Glycin ist ein Baustein von Acetylcholin, einem wichtigen Neurotransmitter. Glycin wird auch benötigt für die Synthese von Glutathion, dem wichtigsten intrazellulären Antioxidans. Tierexperimentell zeigt Glycinsupplementierung einen protektiven Effekt gegen Hypoxie und Ischämie-Schäden.

 

Methionin

Methionin ist eine schwefelhaltige, essentielle Aminosäure. Die stoffwechselaktive Form ist S-Adenosyl-Methionin (SAM). Methionin überschreitet leicht die Blut-Hirn-Schranke und wird in SAM umgewandelt. SAM ist als Methylgruppen-Überträger an zahlreichen biochemischen Reaktionen beteiligt z.B. bei der Bildung der Myelinscheiden. Die Synthese von Adrenalin aus Noradrenalin sowie der Abbau der Katecholemine ist SAM-abhängig.

Bei Depressionen ist der SAM-Gehalt des Gehirns eher niedrig, eine Substitution von Methionin kann hilfreich sein. Bei der Schizophrenie können durch Methionin eventuell vermehrt halluzinogene Verbindungen entstehen. Ein Produkt des Methionin-Stoffwechsels ist Cystein, das wiederum wichtigster funktioneller Bestandteil von Glutathion ist. Ein weiterer Metabolit ist Taurin, das die Nervenzellmembranen stabilisiert. Methionin ist ein Baustein von Carnitin, das einige neuroprotektive Funktionen aufweist, z.B. konnte durch Supplementierung von Acetyl-Carnitin die Progression des M.Alzheimer verlangsamt werden. Beim M. Parkinson kann eine Methionin-Substitution sinnvoll sein zur Besserung von Akinesie und Rigidität. Zur Vermeidung einer vermehrten Homocystein-Bildung sollte dabei auf eine ausreichende Versorgung mit Vitamin B6, B12 und Folsäure geachtet werden.

 

Phenylalanin und Tyrosin

Phenylalanin wird in der Leber bei normalen Stoffwechselverhältnissen zu Tyrosin umgewandelt, das Vorstufe der Schilddrüsenhormone und Katecholamine ist. Die Katecholamine umfassen die Neurotransmitter Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin. Letzteres ist mengenmäßig der wichtigste Signalstoff dieser Gruppe. Der M. Parkinson wird durch eine progressive Degeneration der dopaminergen Bahnen im Mittelhirn verursacht. Da Dopamin die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren kann, wird L- Dopa als neurologisches Medikament angewendet. Ein orthomolekularer Therapieansatz ist die Supplementierung von Tyrosin, bei einer Studie wurden dabei gute klinische Resultate erzielt. Vitamin C-Substitution verbessert die Dopa-Synthese aus Tyrosin. Phenylalanin und Tyrosin haben in Kombination mit Vitamin B6 häufig einen günstigen Effekt bei Depressionen. D-L-Phenylalanin hat eine analgetische und antiinflammatorische Wirkung durch Hemmung des Abbaus von Endorphinen und Enkephalinen. Mögliche Nebenwirkungen von Phenylalanin sind Angst, Kopfschmerzen und Hypertonie. Bei der Phenylketonurie ist eine Phenylalanin-Supplementierung natürlich streng kontraindiziert.

 

Tryptophan

Tryptophan ist Vorstufe des Neurotransmitters Serotonin und von Melatonin. Im Gehirn gibt es mehrere serotonerge Bahnen, sowie verschiedene Rezeptorentypen für Serotonin, woraus sich sehr vielfältige Funktionen dieses Neurotransmitters im Hirnstoffwechsel ergeben. Serotonin ist im ZNS u.a. an der Regulation des Schlaf-Wach-Rhythmus, der Stimmung und der Schmerzempfindung beteiligt. Tryptophan-Mangel wurde bei folgenden Erkrankungen des Nervensystems festgestellt: Alkoholismus, Angstzustände, Depressionen, Dyskinesien, Gedächtnisstörungen, Schlafstörungen, Demenz.

Die Serotonin-Synthese ist abhängig vom Tryptophan-Angebot, deshalb eignet sich eine Supplementierung zur Normalisierung der Serotonin-Konzentration im Nervensystem. Tryptophan kann die Schmerztoleranz-Schwelle erhöhen und reduziert Kohlenhydrat-Heißhunger. Tryptophan sollte zusammen mit Kohlenhydraten eingenommen werden. Die Kohlenhydrat-Zufuhr bewirkt eine Insulin-Ausschüttung, die den Blutspiegel der anderen Aminosäuren senkt. Da Tryptophan im Blut hauptsächlich albumingebunden vorliegt, unterliegt es nicht dem Insulin-Effekt und kann deshalb die Blut-Hirn-Schranke leichter überwinden. Eine Tryptophan-Therapie ist bei schweren Leber- und Nierenfunktionsstörungen, sowie beim Carcinoid kontraindiziert. Bei Asthmatikern besteht die Gefahr einer Symptomverschlimmerung.


Die Auswahl der vorgestellten Aminosäuren bedeutet keineswegs, dass die anderen Aminosäuren keine wichtige Rolle im Nervensystem spielen. Für die Proteinsynthese sind alle Aminosäuren erforderlich. Veränderungen des Aminosäuren-Stoffwechsels sind speziell bei psychiatrischen Erkrankungen relativ häufig.

Es besteht eine enge Beziehung zum Stoffwechsel der Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente. Vitamin B1 (Thiamin) ist an der Synthese der Neurotransmitter Glutamat, GABA und Acetylcholin im Gehirn beteiligt und an der Acetylcholin-Freisetzung an den Synapsen. Thiaminmangel führt zu einer Störung der Blut-Hirn-Schranke mit entsprechenden Folgen für den AS-Stoffwechsel. Vitamin B6 (Pyridoxin) ist Coenzym für mehr als 200 verschiedene Enzyme, die meist am Aminosäuren- und Protein-Stoffwechsel beteiligt sind. Pyridoxin wird benötigt zur Synthese von Sphingomyelin, das Teil der Myelinscheiden ist. Im ZNS ist Vitamin B6 an der Neurotransmittersynthese beteiligt. Folsäure und Vitamin B12 (Cobalamin) sind wichtig für die Übertragung von Methylgruppen und für die DNA-Synthese. Auch hier führen Mangelerscheinungen zu einer Störung im Neurotransmitter-Stoffwechsel. Die Bedeutung der Elektrolyte für die neuromuskuläre Erregbarkeit ist hinreichend bekannt. Magnesium hemmt die Freisetzung von Adrenalin und Noradrenalin und wirkt insgesamt Stressabschirmend. Zink ist Bestandteil der Superoxiddismutasen, die im Gehirn eine wichtige Bedeutung im antioxidativen Schutzsystem haben, speziell zur Begrenzung ischämischer Schädigung.

Grundsätzlich sollte einer Mikronährstoff-Therapie eine entsprechende Labordiagnostik vorausgehen. Aminosäure-Imbalancen sind ohne Labordiagnostik nicht erkennbar. Eine hochdosierte Therapie mit einzelnen Aminosäuren kann möglicherweise psychiatrische Symptome verschlimmern. Diese Gefahr besteht aber nicht bei sinnvoll zusammengesetzten Nahrungsergänzungsmittel. Die ausreichende Verfügbarkeit aller Aminosäuren ist eine wesentliche Voraussetzung für einen normalen Nervenstoffwechsel.

Das Beispiel zeigt ein Nervenprofil, das bei einem 46-jährigen Patienten durchgeführt wurde. Der Patient klagte über Schlafstörungen, Depressionsneigung und Unruhezustände sowie über diverse psychosomatische Symptome. Die üblichen Laborparameter waren unauffällig. Bei dem Patienten wurde Kalium, Magnesium, Zink, Vitamin B6 und Tryptophan substituiert. Außerdem erhielt er ein Nahrungsergänzungsmittel mit einer Aminosäurenmischung*. Es kam insgesamt zu einer deutlichen psychovegetativen Stabilisierung des Patienten.

Stressbedingte Befindlichkeitsstörungen sowie psychovegetative Symptome unterschiedlichster Ausprägung werden in der täglichen Praxis immer häufiger beobachtet. Die Stabilisierung des Nervensystems des Patienten gehört ganz sicher zu den wesentlichen Aufgaben eines Therapeuten. Dabei spielt eine Nahrungsergänzung mit Bausteinen des Nervenstoffwechsels eine ganz wichtige Rolle. Bei den B-Vitaminen und Magnesium liegen häufig latente Mängel vor, Aminosäuren können helfen, Veränderungen des Neurotransmitter-Haushalts auszugleichen.

 

Veröffenlicht:
PRAXIS-telegramm, Ausgabe 1/2000; Autor: Dr. med. Hans Günter Kugler
 

Unsere Empfehlung für eine Mikronährstoffanalyse: DCMS-Neuro-Check